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allein auf dieser Welt liebhaben, und hundertmal muste ich von neuem wieder gewahr werden
daß es doch nicht wahr sey und daß geschwinde wieder was anders meine unzuverlässige Seele und
Gemüth einnehmen konnte. So ging ich etliche Jahre hin, in einem beständigen Lamentiren
über mich selbst und über die verlorene Vertraulichkeit mit dem Heiland und alles wurde mir zuwi-
der, was sonst der Jugend in der Welt zum Vergnügen dienen kann.
Um die Zeit kamen mir die berlinischen Reden in die Hände und waren mir zu großem Trost
und Segen. Auch hörte ich viel reden von einem gewißen neuen Ort in der Wetterau, Herrnhaag
genannt, welchen die Herrnhuther anfingen zu erbauen und fühlte eine unbeschreibliche Freude
darüber. Wiewol es die verächtlichsten Beschreibungen waren, die man mir von der Gemeine
machte; so glaubte ich immer das Gegentheil und fühlte gar zu gut daß dieses mein Volck
wäre, mit dem ich leben und sterben wollte, ob ich gleich noch nie keinen Bruder oder Schwester gesehen
hatte, und mein einziger Kummer war nur der: wie wird das möglich seyn dahin zu gelangen?
Indeßen ließ ich keine Gelegenheit vorbey gehen, da ich nicht meinen Elltern etwas äußerte,
von meinen Ideen über die neue Erscheinung des Reiches Gottes auf Erden und wie groß
meine Neigung dahin sey: ich konnte aber genugsam abnehmen, daß nimmermehr an ihre
Einwilligung würde zu dencken seyn, mich zur Gemeine gehen zu laßen, ohne sie, die ich doch wie
mein Leben liebte, auf das äußerste zu betrüben. Allein eines Tags, da ich früh nach Ge-
wohnheit meinen Vater aus dem neuen Testament vorlas, und zu den Worten des Heilands kam:
Wer Vater oder Mutter mehr liebet denn mich, der ist mein nicht werth: wurde ich so gerührt,
daß ich das Buch hinlegte, als ob ich was nothwendiges zu bestellen hätte, eilte in meine Stube
und schrieb einen Brief an meinen Vater über diese Worte, declarirte ihm zugleich auf die be-
weglichste und submissete Weise mit vielen Thränen, daß ich den göttlichen Ruf in meinem
Herzen nun nicht länger wiederstehen könne, ich würde unverzüglich mich aufmachen und fortgehen
nach Herrnhaag. Augenblicklich ging ich auch, ohne mich weiter nach etwas umzusehen fort, nahm
den Brief mit und schickte Ihn erst aus dem nächsten Dorf in meiner Elltern Haus zurück:
So kühn und außerordentlich nun dieses Unternehmen aussahe und so schwer es mir zu stehen kam,
(denn meine Elltern schickten mir sogleich nach und ließen mich von Frankfurth aus zurück
holen) so war doch dieses das nächste Mittel geweßen, mich los zu machen. Denn verständige
Leute gaben meinen Elltern den Rath, sie sollten mich nur auf eine kurze Zeit nach Herrnhaag
schicken, es sey gar nicht zu zweifeln, ich würde dort meinen Irrthum bald selbst einsehen
und so auf immer davon curirt werden. Zufolge dieses guten Rahts, wurde ich in aller
Geschwindigkeit und auf das liebreichste auf einen Besuch nach Herrnhaag gebracht.
Der 5te November 1744 war der glückselige Tag, da ich in Marienborn ankam, da ich die ersten
Geschwister sahe und da mich ein Friede Gottes umgab und ein Gefühl des Gemein Geistes, das mir
noch immer neu ist, so oft ich daran dencke. Die Pilger Gemeine war just da, und der Heiland
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ließ mich Gnade finden bey allen Geschwistern und absonderlich bey dem lieben seligen Jünger, ob ich gleich
noch so fremd und unbekannt war. Ich hatte ein paar liebe Elltern verlaßen, und hier war es als
hätte ich auf einmal hundert Väter und Mütter wiedergefunden, so fühlte ich alle Geschwister Herzen
gegen mich Armes und mir wars wirklich wie einem Kinde das nun aus der Fremde in seiner
Mutter-Haus und bey den Seinigen angekommen war. Nachdem ich etliche Wochen recht mit
Gnade und Liebe überfüttert worden, in dem lieben Hause Marienborn und der allerliebste selige Jünger
sich die Mühe genommen hatten, selbst an meinen Vater zu schreiben und sich erboten mich wie
Ihr eignes Kind anzunehmen, kriegte ich Erlaubnis nach Herrnhaag ins ledige Schwestern Haus zu ziehen.
Da war ich nicht lange, so fing sich eine neue Gnaden-Arbeit des heiligen Geistes in meinem
Herzen an; ich war sehr einfältig und grade mit allem was mir zu der Zeit klar wurde und
was ich zusammen bringen konnte mich selbst anzuklagen. Denn ich merckte daß mirs an der
wahren Sünderschafft fehlte und hatte Verlangen darnach. ich suchte mit vielen Thränen Ver-
gebung durch sein Blut über alles, was mir in meinem Leben schlechtes vorgekommen war und
wurde auch derselben gar tröstlich versichert; aber die wahre Selbsterkenntniß und die gründ-
liche Kur für Seele und Hütte, blieb mir noch auf eine andre Zeit aufgehoben. So wie
ich es jezt einsehe, wurde ich damals gleich ganz mitgenommen von dem Strom der Gnade
und hatte nicht Zeit recht zu mir selbst zu kommen. Es war aber der Periodus der Wunden-
Litaney und der Wundenlieder: wer es zu der Zeit mit erfahren, wird am besten wißen, wie
gewaltig die Gnade war. Ich übergehe alle die großen Schwierigkeiten, die es noch zwischen
mir und meinen Elltern gab, denn sie begehrten mich nach Verlauf eines halben Jahres wieder
zurücke, und weil der selige Jünger selbst allerley unangenehmes Folgen befürchtete; so muste ich auf
seinen apparten Befehl endlich noch einmal nach Hause gehen, mit der gewissen Versicherung,
ich würde bald wiederkommen, welches auch geschah. Der Heiland half mir auf wundersame
Weise bald ganz los und brachte mich wieder fröhlich und vergnügt nach meinem lieben Herrnhaag zu-
rücke. ich wurde darauf Anno 1746 den 30ten Januar zum erstenmal mit der Gemeine des Leichnams
und Blutes unsers Herrn theilhaftig
, mit recht hungriger Seele, aber so blöde, daß mir die
Gnade viel zu groß deuchten wollte. In eben diesem Jahr kam ich ins Mädgenhaus, zur
Information der Kinder und wohnte bey den großen Mädgen, zog mit der Anstalt nach
Marienborn und Anno 1747 wieder mit derselben nach Herrnhaag.
Von denen verschiedenen Perioden, die ich mit der lieben herrnhaagschen Gemeine wie in einer beständigen
Uebernommenheit durchpasirte, etwas specielles zu sagen, unterstehe ich mich nicht. so viel weis
ich, daß ich an meinem Theil oft mächtige Gnade fühlte, aber ich hatte keinen Sündergrund
die Gnade recht anzuwenden. Dem Heiland sey ewig Danck, der seine armen Schäflein,
mit lauter ueberwinder Liebe sobalde wieder auf die gesunde Weide seiner Wunden zu leiten
wuste, ohne Schaden und Verlust bey allen, deren Herz Ihn bey alledem gemeint hatte!
Anno 1750 verlor das Mädgenhaus die liebe Justine von Schweiniz, die diese Anstalt einige

Register.